Ketzin, Sonntag, 16. Mai 1999

Nicht jeder ist zur Schlossherrin geeignet

Nach einem reichhaltigen Sonntagsfrühstück belud ich Batavus, verabschiedete mich freundlich und fuhr los. Die Aufhängungen der Seitentaschen hatte ich vorher noch gerichtet.
Nach ca. vier Kilometern - ich genoss gerade die Sonne und Natur - hatte ich plötzlich das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Und richtig, mir fiel ein, der Brustbeutel mit den Devisen für Holland und England fehlten. Ein Heidenschreck durchfuhr mich. Ich kehrte sofort um. Frau Giese staunte nicht schlecht, mich so schnell wiederzusehen. Der Brustbeutel lag tatsächlich noch auf dem Bett. Ich glaube, es war ganz gut, dass diese Panne am Anfang meiner langen Tour geschah, denn das würde mir sicher nicht noch einmal passieren.
Nun konnte ich die schöne Natur nach Herzenslust genießen. Die Straße, auf der ich fuhr, war traumhaft schön anzusehen. Doch bald musste ich rechts abbiegen. Dort erlebte ich das Gegenteil von traumhaft, denn hier war ein Schotterweg, nicht befahrbar. Auf meiner Radkarte war der Weg als "mit schlechter Oberfläche" gekennzeichnet, nur hatte ich es vorher nicht beachtet. Nun, laufen ist auch gut, dachte ich, in dieser schönen Natur. Die Sonne strahlte, der Kuckuck rief und auf dem Gewässer rechts von mir schaukelten kleine Segelboote. Ich fotografierte hier und dort die schöne Natur. Ich war wie berauscht. Dann ein Einbruch in diese Idylle, mein Handy klingelte. Stephan, mein jüngster Sohn, wollte wissen, wie es mir bisher ergangen war. Ich freute mich sehr über sein Interesse.
Dann ging ich weiter mit meinem Rad durch Gartenanlagen. In einem Vorgarten werkelte eine weißhaarige Frau, sie sah mich an und fragte: "Wohin des Weges?" Ich erzählte es ihr. Darauf plauderte sie aus ihren Leben. Sie und ihr Mann waren auch mal in Holland, dort wohnte Verwandtschaft von ihnen. Es hatte ihnen in Groningen sehr gut gefallen, so dass sie es mir auch empfahl. Von ihrem Ehemann sprach sie und seinem Unwohlsein so ohne Arbeit, von ihrem Rheuma und den kleinen Wehwehchen, die man eben so hat. Ich hatte das Gefühl, es tat ihr gut sich jemandem mitzuteilen. Dann entließ sie mich mit den besten Wünschen. Ich hatte ja Zeit und es war schön andere Menschen und einen Teil ihres Lebens kennenzulernen.
Der Weg, der nun kam, war wieder befahrbar. So ging es über Pritzerbe, hier sogar mit einer Fähre über das Gewässer, nach Bahnitz. Der Weg war auch hier landschaftlich wunderschön gelegen. Mir ging gut, ich genoss die Natur und kam gut voran. Zwischen Jerchel und Milow hielt ich erst mal eine Rast, denn ich hatte Durst und Hunger. Von gestern hatte ich noch ein paar Stullen, die aß ich und trank dazu mein Aufbauwasser. Es fing an zu tröpfeln, ich überlegte wo ich übernachten könnte. Gegen 17.00 Uhr hatte ich Milow erreicht, wo es eine DJH (Deutsche Jugendherberge) gab. Dort musste man sich, drei Häuser weiter, bei Familie Krüger anmelden, die verwalteten das Haus. Von Krügers ging es zurück in die Herberge. Der Herbergsvater erzählte mir, dass ich Glück hätte. In der Frühe war das Haus noch besetzt mit jungen Leuten aus Holland, die nun abgereist waren. Jetzt sei ich die einzige Bewohnerin, zumindest bis morgen; mich störte es nicht.
Als ich die Herberge sah, dachte ich es sei ein Schloss, so schön war es anzusehen. Ich als Schlossherrin, warum nicht. Herr Krüger zeigte mir mein Zimmer, einfach und sauber. Die Toiletten und Gemeinschaftsduschen waren im Keller. Ich sollte darauf achten, das Licht auszumachen und wenn ich das Haus verließe auch immer abzuschließen, ich versprach es. Auch hier war für Batavus ein Raum zum Unterstellen. Nachdem ich mich frisch gemacht hatte ging ich zum Essen in ein Lokal, ich hatte es schon bei der Ankunft erspäht. Es war gut besucht, die meisten Leute waren Einheimische. Eine Gruppe von acht Wandersleuten saßen an einem großen Tisch, sie unterhielten sich bei Schinken- und Käsebroten und tranken dazu Bier. Ich aß ein Steak, es schmeckte mir ausgezeichnet und ich fühlte mich rundherum zufrieden.
Nach dem Essen ging ich wieder zu meinem Schloss zurück. Beim Schreiben dieser Zeilen schaute ich zufällig aus dem Fenster. Ich sah, wie zwei Burschen über den Zaun kletterten und hinter dem Haus verschwanden. Mein Schlossherrin-Gefühl war mit einem Schlag vorbei. Ich bekam sogar etwas Angst und schloss mich erst mal ein. Über Handy rief ich Herrn Krüger an. Er beruhigte mich und meinte, die würden nur Tischtennis hinten im Garten spielen. Ganz wohl fühlte ich mich trotzdem nicht.
So las ich zur Ablenkung in der Chronik des Hauses. Die war sehr interessant zu lesen: Die Jugendherberge war die ehemalige Sommerresidenz der Berliner Milchfirma Bolle. Im 19. Jahrhundert stand erst eine Kate, die 1871 abgerissen wurde, dann wurde mit dem Neubau begonnen. Bolles kauften noch zwei weitere Grundstücke dazu und legten einen Park und drei Karpfenteiche an. Es wurde ein Nebengebäude gebaut, in dem sich die Kutscherstube und der Pferdestall befanden. Auch eine kleine Kapelle baute man, wovon ein kleiner Rest noch zu sehen war. Da Frau Bolle das Landleben aber nicht liebte, blieb das Haus ungenutzt. Dafür ließ sie sich das gleiche Gebäude in Berlin errichten. Als der Sohn die Firme übernahm, stellte er es den Kindern seiner Arbeiter und Angestellten zur Verfügung. Am 15. Juni 1891 hielten 60 Kinder Einzug in das Haus. Mit einem Salondampfer ließ Carl Bolle seine Gäste aus Berlin und Plauen einreisen. 1914 wurde es flüchtigen Jungs aus Ostpreußen zur Verfügung gestellt und 1919 als Jugendheim für Mädchen verwendet. Anfang der dreißiger Jahre war eine Pension untergebracht und 1937 kaufte der Kreis Jerichow II die Villa als Arbeitsdienstlager für die weibliche Jugend. 1945 diente sie für kurze Zeit als Lazarett für sowjetische Soldaten, und ab 1951, anlässlich der III. Weltfestspiele der Jugend, wurde sie ihrer Bestimmung als Jugendheim übergeben. Beim Umbau 1988 wurde wieder umgebaut. Die Räume wurden verkleinert und Waschbecken eingebaut. 1992 war die Übergabe an das DJH-Werk. Nun hatte ich genug gelernt und ging schlafen.

[ Kilometerstand: 434 km ]

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